Claus Peter Müller
von der Grün

Systemfehler: Pflegeversicherung

Eigentlich soll eine Versicherung die wirklich großen Risiken abdecken. Nur bei der Pflegeversicherung ist es umgekehrt: Wenn es teuer wird, zahlt vor allem der Versicherte. Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen hat einen Gegenvorschlag.

Seine Reformperspektiven und Reformszenarien hat Prof. Dr. Rothgang auf dem Strategieforum 2018 der Evangelischen Bank in Berlin vorgestellt und mit dem Fachpublikum unter meiner Moderation diskutiert.

Das Pflegefallrisiko steigt, und es macht Angst. Geradezu systemwidrig ist es jedoch, die finanzielle Absicherung dieses sozialen Fundamentalrisikos faktisch auf das Individuum abzuwälzen, bis der Pflegebedürftige in die Sozialhilfe abrutscht und die Kosten sozialisiert werden. Es wird Zeit, die Pflegeversicherung vom Kopf auf die Füße zu stellen, damit diese Versicherung in ihrer Struktur sachgerecht und das finanzielle Risiko der Pflegebedürftigkeit endlich kalkulierbar wird, - sowohl für den Einzelnen, als auch für die Gesellschaft.

Die Pflegereform der vergangenen Legislaturperiode war eine der größten Sozialreformen in der Geschichte dieses Landes. Sie geht langfristig mit gigantischen Leistungsversprechen einher. Es gibt mehr Personal, und adhoc schlägt die Reform mit 7 Milliarden Euro im Jahr zu Buche. Es verbesserten sich rasch die Leistungen für zwei Drittel der Pflegebedürftigen in den Pflegeheimen. Doch der positive Effekt ist schon wieder verpufft. Aber wichtiger noch, als das Bestehende zu verbessern, ist es, drei Webfehler in der Gen-Struktur der Pflegeversicherung zu korrigieren.

I.      Die gesetzliche Pflegeversicherung ist eine Chimäre, ein Mischwesen aus der alten Krankenversicherung von 1883 und der gut 100 Jahre später gegebenen politischen Antwort auf die Herausforderung, dass wir für unsere steigende Lebenserwartung einen Preis zu bezahlen haben. Die Pflege ist im sozialen Versorgungssystem sektoral fragmentiert in ambulante und stationäre Pflege aufgeteilt: Die Kosten der häuslichen, ambulanten Pflege werden von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen, indes die Kosten der stationären Pflege über die Pflegesätze der Heime „all inclusive“ abgerechnet und letztlich von deren Bewohnern getragen werden.

Diese Vermischung führt – wie auch auf anderen Feldern der Sozialversicherung  – zu einer nach Sektoren fragmentierten und abgeschotteten Versorgung. Kurz gesagt: Jeder Leistungsanbieter folgt dem Anreiz, sein Geschäftsfeld im Eigeninteresse betriebswirtschaftlich zu optimieren, obwohl doch die personenzentrierte Versorgung des Individuums in einer ganzheitlichen Betrachtung der Versorgungsysteme das Ziel sein sollte. Institution geht vor Individuum. Solange das Versorgungssystem fragmentiert ist, wird seine Leistung unter dem Optimum bleiben, und Innovationen werden nur geringe Chancen haben, sofern sie für einen der Leistungssektoren mit einem möglichen Verlust an Einfluss, Macht und Einkommen einhergehen.

II. Doch bevor die Pflegeversicherung ganzheitlich mit anderen Sozialversicherungen verwoben wird, ist ein Systemfehler zu benennen zu beheben: Die medizinische Behandlungspflege – ob sie nun ambulant oder stationär erbracht wird – ist systematisch nicht dem „care“, dem Pflegen von Alten und Bedürftigen, zuzuordnen, sondern dem „cure“, dem Heilen. Damit sollte die medizinische Behandlungspflege, bis alle Sektorengrenzen in der Sozialversicherung eines fernen Tages gefallen sein werden, eine GKV-Leistung im klassischen Sinne sein. Gegenwärtig handelt es um einen Betrag von etwa 2,6 Milliarden Euro im Jahr, der von der GKV zusätzlich zu tragen wäre.

III. Bei sozialen Fundamentalrisiken wie „Krankheit“, aber auch in der privaten KFZ-Kaskoversicherung, gilt der Grundsatz, dass das finanzielle Risiko im Grundsatz durch die Solidargemeinschaft abgesichert und lediglich ein überschaubarer Eigenanteil geleistet wird, um zum Beispiel den „moral hazard“, die Übervorteilung zulasten Dritter, zu begrenzen. Die Systematik in der Pflegeversicherung ist faktisch umgekehrt. Die Versicherung leistet bis zu einem bestimmten Kostensatz. Darüber hinaus hat der Versicherte einen Eigenanteil unabhängig von seiner Leistungskraft aufzubringen. Übersteigt der Eigenanteil die Leistungskraft des Pflegebedürftigen und seiner Angehörigen, werden die überschießenden Kosten über die Sozialhilfe sozialisiert.

Die Belastung der Pflegebedürftigen ist erheblich. Der Eigenanteil der Pflegebedürftigen in Heimen an den pflegebedingten Kosten steigt seit Jahren stetig. 1999 betrug der durchschnittliche Eigenanteil in der vollstationären Pflege 277 Euro im Monat, 2017 betrug der Einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEG) nach dem neuen Pflegestärkungsgesetz 587 Euro. Zudem schwankte dieser Eigenanteil regional stark zwischen 234 Euro in Thüringen und 869 Euro im Saarland. Die Gesamtbelastung, die die Pflegebedürftigen respektive ihre Angehörigen zu tragen haben, ist freilich viel höher, denn es kommen Eigenanteile für Unterkunft und Verpflegung sowie für die Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen hinzu. Im deutschen Durchschnitt betrug der kumulierte monatliche Eigenanteil im vorigen Jahr 1691 Euro. Am geringsten war er in Sachsen-Anhalt mit 1107 Euro und am höchsten in Nordrhein-Westfalen mit 2252 Euro. Mit der jüngsten Pflegereform werden die Eigenanteile weiter und womöglich auch progressiv steigen, denn die Pflegebedürftigen werden an den Kosten der Heime – zum Beispiel für eine gerechte Bezahlung nach Tarif und eine menschenwürdige Ausstattung mit Personal – beteiligt – und das zu 100 Prozent.

Warum, fragt Rothgang, wird die Systematik in der Pflegeversicherung nicht einfach umgedreht, vom Kopf auf die Füße gestellt? Die Frage und die damit implizierte Lösung sind in ihrer Logik so naheliegend wie einfach. Warum zahlen die Pflegebedürftigen nicht einen fixen und zeitlich begrenzten Sockelbetrag unabhängig von ihrem Pflegebedarf? Und warum übernimmt nicht die Pflegeversicherung alle weiteren finanziellen Risiken? Die Pflegebedürftigen sparten sozusagen mit einem bestimmten fixen Eigenanteil – unabhängig von ihrem Pflegedarf - Geld für die Gemeinschaft der Pflegebedürftigen an. Dann wäre – dank eines Solidarausgleichs unter den Pflegebedürftigen - das Kostenrisiko für den einzelnen Pflegebedürftigen überschaubar und absicherbar, und sowohl für die Pflegeversicherung, als auch für den Versicherten wäre ein kostenneutraler Umbau des Systems denkbar.

Rothgang empfiehlt, den monatlichen Eigenanteil von 248 Euro, den Pflegebedürftige im Durchschnitt ambulant und stationär im Monat als Eigenanteil für die Pflege aufbringen, als Basis des fixen und zeitlich befristeten Sockelbetrags zu wählen. Multipliziert mit der durchschnittlichen Dauer der Pflegebedürftigkeit kommt Rothgang auf einen Betrag von 13.500 Euro – ohne die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen.

Um sogleich das Risiko der finanziellen Belastung für den Pflegebedürftigen zeitlich zu begrenzen, schlägt Rothgang einen Sockelbeitrag vor, der über dem Wert von 248 Euro liegt, aber nicht lebenslang zu bezahlen wäre. Der Betrag von 13.500 Euro könnte zum Beispiel über drei Jahre mit einem fixen Eigenanteil von 470 Euro im Monat geleistet werden, oder über vier Jahre mit einer monatlichen Leistung von 388 Euro. Der Sockelbetrag wäre sowohl in ambulanter, als auch stationärer Pflege fällig.

Um dem „moral hazard“ zu begegnen und die Leistungsmengen sowie Kosten sachgerecht zu begrenzen, setzt Rothgang auf die Preisverhandlungen zwischen Kassen und Pflegeeinrichtungen, sowie auf differenzierte, individuelle Begutachtungsverfahren, in denen der Wissenschaftler dem Gutachter eine starke Stellung einräumen möchte.

Sollte die adäquate Summe über die laufenden Einnahmen der Pflegeversicherung aufgebracht werden, wäre ein - abermaliger - Anstieg der Beiträge um 0,7 Prozentpunkte nötig.

Die Webfehler in der Struktur der Pflegeversicherung werden nicht über Nacht zu beheben sein. Darum hat Rothgang drei Szenarien für einen Übergang in Stufen entwickelt.

Claus Peter Müller v. d. Grün