Claus Peter Müller
von der Grün

Physician Assistant und elektronische Patientenakte

Not macht erfinderisch – auch im Gesundheitswesen. Davon ist Professor Dr. Boris Augurzky, Kompetenzbereichsleiter Gesundheit am RWI Leibniz Institut in Essen, überzeugt. Ich sprach mit ihm über die kommenden Veränderungen.

Prof. Dr. Boris Augurzky

Herr Professor Dr. Augurzky, die Leistungen des Gesundheitssystems könnten längst transparent sein. Das hieße auch: verständlich für jedermann. Wann wird es soweit sein?

Es wird noch eine Weile dauern, bis Qualitätsdaten in breitem Maße vorliegen. Mit Hilfe moderner Technik wird man sie für Patienten jedoch weitaus verständlicher darstellen können als dies heute der Fall ist. Zum Beispiel könnten Apps hier helfen. Der Patient kann damit gezielt Informationen für seine Erkrankung suchen und muss sich nicht durch einen langen Qualitätsbericht wühlen, der Aussagen über viele für den Patienten uninteressante Erkrankungen macht.

Muss sich der Gesetzgeber überhaupt noch Gedanken um die ambulante Versorgung auf dem Land machen? Können das nicht die Kliniken miterledigen, und die Trennung ambulant-stationär löst sich ganz von selbst auf?

Ja. Aber der Gesetzgeber müsste das auch erlauben.

Gibt es eigentlich einen direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der Pflegekräfte und der Qualität der Pflege? Oder wird Qualität stärker von der Kultur in einer sozialen Organisation bestimmt?

Der Zusammenhang zwischen der Zahl der Pflegekräfte und der Mortalitätsrate im Krankenhaus war bei unserer Untersuchung, die wir vorgelegt haben, recht gering. Das heißt: Krankenhäuser, die mehr Pflegekräfte einsetzten als andere, schnitten deswegen im Vergleich der Mortalitätsrate kaum besser ab. Der Unterschied war minimal. Allerdings gibt es neben der Mortalitätsrate natürlich noch weitere Qualitätsmaße, die wir - noch - nicht messen können. In Zukunft können wir hier vermutlich breitere Analysen durchführen. Man muss allerdings bedenken, wenn ich mehr Pflegekräfte einsetze, muss ich bei begrenzten Ressourcen von anderen Diensten Personal abziehen. Letzteres könnte den Vorteil von mehr Pflege vielleicht wieder aufheben, sodass am Ende die Qualität nicht steigt. Aber ich bin der Meinung, dass Menge alleine nicht ausschlaggebend ist. Viel hängt mit Sicherheit davon ab, wie die Abläufe im Krankenhaus gestaltet sind, wie die Teams interagieren, wie die Führungskultur ist. Allerdings ist das schwer messbar.

Es gibt seit langem schon die gestuften Studiengänge. Die Bachelor- und Master-Absolventen in den buntesten fachlichen Kombinationen sind in der Wirklichkeit angekommen und sie funktionieren überall. Und in der Medizin – stockt dort unter den Talaren noch immer der Muff von hunderten von Jahren?

Ein bisschen schon. Wir müssen nicht nur wegen des Themas „Physician Assistant“ Studiengänge reformieren, sondern auch wegen neuer technischer Entwicklungen. Die Presse beispielsweise sucht heute schon eher IT-Spezialisten als Journalisten. Auch im Gesundheitswesen wird es ganz neue Berufe geben. Vielleicht braucht es in zehn Jahren Patientencoaches, die die selbst erhobenen Gesundheitsdaten der Patienten auswerten und interpretieren. Dadurch könnte der Hausarzt entlastet werden.

Die Digitalisierung verändert die Welt. Wen macht sie eher entbehrlich: Die Ärzte, weil Evidenz die Eminenz ersetzt? Oder die Pflege, weil es schon bei Charly Chaplin in moderne Zeiten eine Füttermaschine gab?

Die Pflege am Bett wird es noch eine lange Zeit geben. Roboter werden vermutlich eher in der Logistik eingesetzt oder beim Heben schwerer Lasten. Auch Ärzte werden weiterhin viel zu tun haben. Künstliche Intelligenz wird sie aber dabei unterstützen, Daten auszuwerten, vor allem Bilder, Diagnosen zu stellen und Therapieempfehlungen zu erarbeiten. Hierbei kann das gesamte medizinische Wissen weltweit einfließen. Eine Konsequenz davon ist, dass die ärztliche „Eminenz“ gegenüber diesem weltweiten Pool an Wissen unbedeutender wird.

Stichwort elektronische Information: Glauben Sie wirklich, dass das deutsche Gesundheitswesen eines Tages auf handschriftliche, unleserliche Notizen und das Faxgerät verzichten wird?

Ganz sicher. Technisch machbar wäre es ja schon. Der Wille fehlt noch. Wenn wir jedoch im Laufe der 2020er Jahre erkennen, dass wir die wachsende Zahl an Patienten nicht mit einer schrumpfenden Zahl an Fachkräften versorgen können, werden wir sehr erfinderisch werden. Alte Zöpfe werden dann ganz schnell abgeschnitten.