Claus Peter Müller
von der Grün

MobiVision

Vision Zero, Mobilitätsplattformen, Carsharing und neue Perspektiven von ganz oben auf die Welt: Der 15. Hessische Mobilitätskongress auf der IAA in Frankfurt hat die Evolution im Verständnis von Mobilität offenbart. Noch nie waren seine Themen so vielfältig.

Foto: K. Müller v. d. Grün

Wir erinnern uns: Vor zwei Jahren auf der vorigen IAA war die automobile Welt (beinahe) noch in Ordnung. Das, was manche unbeirrt „die Dieselthematik“ nennen, begann damals seinen Lauf zu nehmen - mit weiterhin offenem Ausgang. Bei manchen von uns Kunden hat sich ein ungutes Gefühl eingenistet.

Kehrt Vertrauen zurück? Oder wird das Misstrauen obsiegen? Und kommt gar weiteres Misstrauen hinzu? Wenn Fanatiker dazu anstiften, das Auto als Waffe zu missbrauchen – wie jüngst in Barcelona – und Züge zum Ziel von Attentätern werden – wie jüngst in London.

Unser Stadtbild verändert sich indes. Bisher offene Straßen und Plätze werden mit Betonklötzen, quer geparkten Fahrzeugen und Sicherheitswänden gegen potentielle Angreifer abgeriegelt, denn Messen, Kunstausstellungen wie die documenta und andere Events könnten Ziele von Angreifern sein.

Und serienmäßig installierte Sicherheitssysteme in den Fahrzeugen, die zum Beispiel bei der Näherung an ein Hindernis eine Zwangsbremsung auslösen, erhalten einen Sinn, den ihre Entwickler vor Jahren vermutlich nicht vor Augen hatten.

Der sich ohnehin vollziehende Wandel in der Idee von Mobilität und vom Umgang mit dem Auto erhält also Impulse, die wir uns so zwar nicht gewünscht haben, die aber ihre Wirkung nicht verfehlen werden. Veränderung beschleunigt sich.

Das spiegelte auch unser Programm des „15. Hessischer Mobilitätskongress“ wider, den ich einmal mehr moderieren durfte.

Es ging zum Beispiel um Carsharing – auch unter Nachbarn für die Mobilität in ländlichen Räumen. Wir diskutierten mit Hessens Staatsminister für Wirtschaft, Energie und Landesentwicklung, Tarek Al-Wazir, die Mobilitätsstrategie des Landes Hessen, und wir befassten uns mit Vision Zero, - dem Angebot der Schweden an die ganze Welt, dass möglichst niemand mehr im Straßenverkehr zu Tode kommen soll. Das schwedische Parlament bekannte sich in den späten 1990er Jahren zur Überzeugung, es könne niemals akzeptiert werden, dass ein Mensch im Straßenverkehr schwer verletzt oder getötet wird.

Das erfordert ein Umdenken. Es geht nicht allein um bessere technische Lösungen, sondern um ein grundlegend anderes Verständnis vom Menschen im Verkehr, wie Prof. Dr. Matts Belin vom schwedischen Amt für Verkehr in Frankfurt erläutert hat. Wir Menschen haben zum Beispiel kein Gefühl für kinetische Energie. Bis es zum Aufprall kommt. Wer aber bremst uns rechtzeitig ein? Können wir das selbst? Oder benötigen wir Hinweise und Hilfen?

Die Verantwortung verlagert sich. Wenn wir umfassend denken, können wir selbst schwerste Unfälle nicht mehr allein als Folge des Fehlers eines einzelnen Fahrers und mithin als ein vermeintlich unvermeidbares Schicksal beiseiteschieben, sondern wir beginnen ein System zu entwickeln, in das uns „Sicherheit“ als Leitgedanke führt.

Die Sprache offenbart unser Denken, und ihre Analyse offenbart Zynismen. In Schweden wurden hierzulande als heimtückisch empfundene „Radarfallen“ zu „Sicherheitschecks“. Sie stehen nicht im Verborgenen, sondern die möglichen Kontroll-Zonen werden – wie auch in Frankreich – durch Schilder angekündigt. Da Messanlagen sind noch nicht einmal immer in Betrieb. Allein der Hinweis darauf genügt. Dann senken die meisten Verkehrsteilnehmer ihre Geschwindigkeit. Wer das nicht kapiert, darf zahlen. Das schafft zwar weniger Einnahmen für die öffentlichen Kassen, aber viel mehr Sicherheit für alle, und diese zu steigern, ist schließlich das politisch erklärte Ziel der Schweden.

Mehr Kreisverkehre und Barrieren zwischen den Fahrstreifen auf Landstraßen, die die Gegenverkehre wirksam voneinander trennen, rechnen sich rasch, wenn die Kosten für den Umbau den Unfallfolgen gegenübergestellt werden, die ausgeblieben sein werden, weil die Straßen sicherer wurden. Vor allem aber wird das Recht von Menschen auf Leben sowie Unversehrtheit geachtet. Das wiederum ist das Entscheidende.

In Schweden verunglücken im Jahr etwa drei von 100.000 Einwohnern tödlich im Straßenverkehr. In hochentwickelten Ländern sind es im Durchschnitt etwa neun Menschen, im weltweiten Durchschnitt siebzehn und in schwach entwickelten Ländern vierundzwanzig Menschen.

Die Kongressteilnehmer nahmen – mit Hilfe der vielfach ausgezeichneten Filmemacherin Professor Erica von Möller - die Konstanten im Wandel von Mobilität in den Blick: Die Weltreise des Fräulein Stinnes, das mit dem Auto die Welt umrundete, als es noch nicht überall Straßen gab, liegt zwar schon fast 100 Jahre zurück. Doch der Drang nach Mobilität, nach Innovation und gesellschaftlicher Veränderung in einer freien, offenen Welt ist noch immer faszinierend. Das gilt um so mehr, weil Frauen – selbst hundert Jahre nach Fräulein Stinnes – immer noch nicht auf der ganzen Welt Auto fahren dürfen. Das Auto hat also durchaus noch etwas mit Freiheit zu tun.

Und schließlich warfen wir mit Dr. Thomas Reiter von der European Space Agency (ESA) - Astronaut, Brigadegeneral, ESA-Koordinator Internationale Agenturen sowie Berater des ESA-Generaldirektors - den Blick von ganz oben auf die Welt. Das hilft, die Maßstäbe zu wahren. Manches, das uns tagaus tagein beschäftigt, ist von ganz oben unsichtbar. Und Anderes gerät erst von dort oben in den Blick. Das Gefühl von grenzenlosem Glück und beklemmender Sorge liegen – von oben betrachtet – offenbar ganz nah beisammen, wie uns Thomas Reiter nachvollziehen ließ, als er beschrieb, wie räumlich nah Krieg und Frieden mit bloßem Auge erkennbar für den Reisenden im All zusammenliegen, und als er schilderte, wie schön die Erde von oben aussieht, doch wie erkennbar dünn und verletzlich ihre Atmosphäre ist.

https://wirtschaft.hessen.de/presse/pressemitteilung/minister-al-wazir-skizziert-strategie-fuer-den-verkehr-der-zukunft

https://www.mobil-in-hessen.de/dynasite.cfm?dsmid=19344