Claus Peter Müller
von der Grün

„Zur Triage gezwungen“

So sieht es Prof. Dr. Armin Pycha, Chefarzt der Urologie Bozen. Ich führte mit ihm ein Gespräch über die Auswirkungen der Corona-Pandemie in seinem Krankenhaus. Die Ärzte-Zeitung hat das Interview am 15. April 2020 veröffentlicht. In meinem Blog können Sie es auch lesen.

„Alles, was vorab angedacht worden war, wurde von der Realität überrollt,“

 berichtet Prof. Dr. Armin Pycha in einem Gespräch über seine Erfahrungen während der Corona-Pandemie und mahnt zu „Respekt“ vor dem, was auf andere noch zu kommt. Prof. Dr. Pycha ist seit 20 Jahren Chefarzt der Urologie Bozen, Südtirol. Er hat sein Studium in Innsbruck und seine Facharztausbildung in Verona, Bozen und Wien absolviert. Das Krankenhaus Bozen ist das Landeskrankenhaus der Provinz Südtirol und Referenzspital für sechs periphere Spitäler. Es beherbergt 960 Betten, alle internistische Disziplinen und - bis auf die Herzchirurgie - alle chirurgischen. Die Urologie Bozen ist die einzige zertifizierte Urologische Klinik in Italien. Den Kontakt zu Herrn Prof. Dr. Pycha hat mir Herr Prof. Dr. Tilman Kälble, Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie am Klinikum Fulda, und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie, vermittelt. Mein herzlicher Dank gilt beiden Herren für das Gespräch und die Vermittlung desselben.

Herr Professor Dr. Pycha, wann kam der erste Corona-Patient in Ihr Krankenhaus?

Am 25. Februar 2020 - einen Tag vor Aschermittwoch - hatten wir den ersten nachgewiesenen Positiven. Er war niemals krank. Man kam nur durch die Umfeldanalyse in Codogno (Lombardei) darauf. Er hatte seine Tante in Codogno besucht. Er war immer nur gesunder Träger des Virus.

In welchen Chiffren beziffern Sie Auswirkungen der Pandemie am Palmsonntag, eine Woche vor Ostern, also fast 40 Tage nach der Aufnahme des ersten Patienten?

Wir zählen bisher 1.653 Infizierte, 156 Tote und 240 Geheilte. Wir haben 15.728 Tests an 8.338 Personen durchgeführt. 5.657 Personen sind in Quarantäne und 181 Mitarbeiter der Südtiroler Spitäler sind positiv getestet. Das ist der Stand am Palmsonntag um 10.00 Uhr.

Hatte das Krankenhaus Vorbereitungen auf die erwartete Pandemie getroffen?

Bereits frühzeitig hat die Spitalleitung ein Konzept erarbeitet, wie man dieser Krankheit begegnet. Aber alles, was vorab angedacht worden war, wurde von der Realität überrollt. Wir alle konnten uns das Ausmaß und die Dynamik dieser Krankheit nicht vorstellen.

Wie haben Sie sich im Krankenhaus auf den Krisenfall ein- und im laufenden Betrieb umgestellt?

Früh wurden alle nicht-dringlichen ambulanten Visiten eingestellt. Nur mehr Dringlichkeiten wurden ins Krankenhaus eingelassen. Die planbaren Operationen wurden abgesagt. Nur mehr Notfälle und dringliche onkologische Eingriffe waren zugelassen. Die Zahl der OP-Säle wurde von vierzehn zunächst auf sechs und dann auf zwei reduziert. In den gesperrten OPs werden jeweils zwei Covid Patienten beatmet. Die Reha-Abteilung, die Dermatologie, die Pneumologie, die Geriatrie und die Augenabteilung wurden zu Covid-Stationen. Später wurde im noch zu beziehenden Neubau eine Covid-Bettenstation in aller Eile eingerichtet. Ärzte und Pfleger wurden für diese Stationen abgezogen, neue Teams wurden gebildet. Die Teams sind interdisziplinär. In jedem Team ist zumindest immer ein Internist, ein Infektiologe oder Pneumologe, um die Qualität der Assistenz zu garantieren. Strategisch wurde eine Task-Force eingerichtet, die dem Zivilschutz untersteht, und über jede Infrastruktur und Ressource, auch personelle, verfügen kann. Abteilungsärzte wurden zum Teil nach Hause beordert um eine Reservemannschaft im Falle einer Infektion zur Verfügung zu haben. So werden kranke Ärzte durch gesunde ersetzt. 20 Prozent der Ärzte der Urologie Bozen sind an Covid erkrankt, ein Teil macht Dienst auf Covid-Stationen, sodass wir aktuell noch drei Fachärzte und ein Jungmediziner sind, der vor 4 Wochen mit der Ausbildung begonnen hat. Im Normalbetrieb ist aber nicht viel zu tun. Es kommen kaum Notfälle herein.

Was heißt das in der Konsequenz: Wie stark ist zum Beispiel die Zahl der Operationen im Vergleich zum Normalbetrieb gesunken?

Normal haben wir täglich zwei OP-Säle mit 35-40 Eingriffen wöchentlich. Aktuell haben wir zwei bis maximal drei Eingriffe pro Woche.

Hat das Auswirkungen auf die Versorgung respektive die Gesundheit und Heilungschancen der zunächst nicht behandelten Patienten?

Auf jeden Fall. Der onkologische Patient kann nicht mehr leitliniengerecht versorgt werden. Wir haben einen OP für dringliche, nicht aufschiebbare onkologische Fälle zur Verfügung. Diesen nutzen elf  Disziplinen. Und wir haben einen OP für Dringlichkeiten aus der Traumatologie, Neurochirurgie, Gefäßchirurgie, Allgemeinchirurgie und Urologie. Die Geburtshilfe hat intern eine „negative“- und eine Covid-Station eingerichtet.

Anhand welcher medizinischer Kriterien entscheiden Sie, welcher Eingriff akut und welcher elektiv ist?

Das ist ein großes und zum Teil auch ein belastendes Dilemma. Elektives gibt es nicht mehr. Auch keine elektive Onkologie. Nur mehr unaufschiebbare onkologische Chirurgie. Die ersten drei Zystektomien waren aufgrund von starken Blutungen eine imperative Indikation. So mussten wir, wenn auch verzögert, eine Salvage Zystektomie durchführen. Wir haben noch acht „normale“ Zystektomien „auf Halde“. Den Eingriff um zwei bis drei Monate aufzuschieben, heißt die Lebenserwartung einzuschränken. Diese Patienten sind sowieso schon „super-selektioniert“. So habe ich jüngere Patienten mit vermeintlich besseren Überlebenschancen ausgewählt, auch weil uns im Notfall kein Intensivbett für den Operierten zur Verfügung steht. Ein Patient mit hoher Komorbidität kann im Krisenfall nicht intensivmedizinisch versorgt werden. Also nimmt man solche, wo man glaubt, dass man sie postoperativ auf der Normalstation führen kann. Das Schlimmste ist die Überbringung der Botschaft, dass der Patient jetzt wieder nicht operiert wird.

Welchen ethischen Grundsätzen oder Leitlinien folgen Sie und Ihre Kollegen in diesem Dilemma?

Lebensgefahr (massive Blutung oder septisches Geschehen) hat Vorrang. Dann Prognose und Alter, soziales Umfeld und technische Machbarkeit ohne Intensivstation im Rücken. Es ist immer eine Einzelfallentscheidung. Zurück bleiben jedes Mal ein flaues Gefühl und Zweifel, ob man wirklich richtig entschieden hat. Zum Teil ist man, ungewollt, Richter über Leben und Tod. Etwas, was keiner sein will.

Sehen Sie sich zur Triage gezwungen, auch wenn Sie das Wort vielleicht nicht verwenden?

Leider ja, täglich.

Kommt es im Gespräch mit den Kollegen zur Zuspitzung, indem die Frage gestellt wird: Wessen Leben ist wichtiger? Das des Corona- oder das des Tumorpatienten?

Ganz bestimmt. Zur Zeit ist alles auf Corona getrimmt, hat absoluten Vorrang. Wir sind großgeworden mit dem Grundsatz, dass jedes Leben gleich viel wert ist. Das gesunde wie das behinderte, das junge, wie das alte und man kämpft um jedes. In allen demokratischen Verfassungen ist dies verankert, und es ist gut so. Das hat uns nie vor die Wahl gestellt: Darf ich oder kann ich intervenieren, sofern die objektive Sinnhaftigkeit gegeben ist. Ressourcen waren immer da, Hilfe immer verfügbar. Diese Verfügbarkeit ist derzeit objektiv nicht mehr gegeben und damit stellt sich dieses ethische Problem.

Akzeptieren die Patienten und die Angehörigen die Entscheidungen?

Anfangs ja. Mit dem Andauern der Krise immer weniger. Sie stellen zunehmend die Frage, ob sie, weil sie einen Tumor haben, jetzt ein Patient zweiter Klasse sind?  Die Polemik wird zumeist nicht von den Patienten vorangetrieben, sondern von den Verwandten und gewinnt an Schärfe.

Wie gehen Sie als Ärztinnen und Ärzte, als Schwestern und Pfleger damit persönlich um?

Man diskutiert innerhalb des Teams. Gelegentlich herrscht auch hier keine Einigkeit. Wir haben aber eine gute Diskussionskultur ohne Anfeindung oder persönlichen Ressentiments. Transparenz ist oberstes Gebot. Es hilft da  auch die Hierarchie. Als Chefarzt treffe ich dann die Entscheidung und trage die Verantwortung. Dann wird mit dem Patienten geredet und immer wieder geredet. Es wird erklärt, die aktuellen Zwänge werde nahegebracht und man versucht, die Hoffnungslosigkeit zu vertreiben. Manchmal gelingt das, oft nicht.

Wann, denken Sie, wird die Pandemie in Südtirol ihren ersten Höhepunkt erreicht haben?

Die Experten hatten ihn für den 25. März 2020 erwartet, jetzt meinten sie, es werde der 3. April 2020 gewesen sein.

Was leiten Sie aus den bisherigen Erfahrungen an Konsequenzen für die bessere Vorbereitung auf eine mögliche zweite Infektionswelle in den Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen ab?

Alles was geplant war, wurde von der Wirklichkeit überrollt und erwies sich als nicht ausreichend. Das Wichtigste wäre, die Bedrohung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.  Uns allen fehlt Erfahrung im Umgang mit solchen Katastrophen. Ob die Isolierung wie in Italien oder die gewollte Durchseuchung wie in Schweden der richtige Weg ist, wir wissen es nicht.  Es braucht vor allem eine hohe Kapazität an Beatmungsbetten, die sie in Deutschland haben, wir in Italien nicht.

Was raten Sie den Entscheidern in jenen Ländern, auf die die Welle erst noch zurollt – wie zum Beispiel Deutschland?

Ich bin sicherlich nicht befähigt, Kompetenteren gute Ratschläge zu geben. Ich würde, wenn irgend möglich, eine Schiene für die Onkologie in einem sinnvollen Maße offenhalten. Man muss unter allen Umständen eine Zweiklassenmedizin vermeiden.

Wie erklären Sie die Unterschiede in den Auswirkungen der Pandemie in verschiedenen europäischen Ländern bisher? Oder auch unterschiedliche Auswirkungen innerhalb bestimmter Länder? In Deutschland hat sich das Virus im Süden und Westen zunächst schneller verbreitet als im Norden und Osten. Vielleicht teilen wir die Frage: Welche Rolle spielen kulturelle Unterschiede im täglichen Leben, zum Beispiel die Prägung durch Weltanschauung und Religion, der Wertekanon einer Gesellschaft sowie sozial eingeübte Strukturen? Und welche Bedeutung haben Unterschiede in der Organisationsstruktur, der materiellen und personellen Ausstattung der Gesundheitsversorgung – die letztlich freilich auch aus kulturellen Haltungen resultieren?

Das soziale Leben des Italieners findet vorzugsweise außer Haus statt. Man begrüßt sich mit Wangenkuss und Umarmung, man ist sich oft auch körperlich nahe. All das fördert die Infektionskette. Der Lebensstil hat in Italien und Spanien sicher zur Ausbreitung beigetragen. Die Sanitätsstruktur ist sicher auch entscheidend. Es traf Italien als erstes und unvorbereitet. Diese Dimension vermochte keiner zu denken, geschweige denn zu organisieren. Dazu kommt, dass Italien – gemessen an der Bevölkerungszahl – gegenüber Deutschland nur ein Drittel der Beatmungsbetten besitzt. Das resultiert aus einem ganz anderen Finanzierungsmodell des Gesundheitswesens. Der Italiener besitzt aber eine hohe Fähigkeit an Improvisation, und das kam dem Gesundheitssystem jetzt sicherlich zu Gute.

Wie sollten sich die Menschen in Deutschland mental auf das, was kommt, vorbereiten?

Angst ist falsch, aber Respekt ja. Die Entscheidungsträger scheinen mit Augenmaß und Entschlossenheit ausgestattet zu sein. Deren Ratschläge penibel zu befolgen, wäre sicherlich weise. Ich wünsche den Deutschen Solidarität untereinander, dass Nachbarschaftshilfe etwas Selbstverständliches ist, denn in Krisen zeigt sich der wahre Charakter, bei Einzelnen wie bei Massen.

Reagieren wir alle auf die globale Bedrohung zu regional und national?

Wir dachten ja anfangs, es sei ein regionales Problem. Selbst die WHO hat die Dimension nicht sofort mit Weitblick einschätzen können. Entscheidungsketten in großen Organisationen sind oft schwerfällig. Da sind nationale oder regionale Institutionen flexibler und schneller in der Entscheidungsfindung.

Versagt Europa in der Krise?

Ich finde das nicht. Wir haben neun Beatmete nach Österreich und zwei nach Deutschland verlegt. Wenn das kein Zeichen für Solidarität und Kooperation ist!!! Deutschland übernimmt französische Patienten, stellt eigene Ressourcen jenen zur Verfügung, deren eigene erschöpft sind. Man muss immer bedenken, Europa ist ein Staatenverbund und nicht ein Bundesstaat. Niemals wollte man nationale Kompetenzen an eine supranationale Institution abgeben. Politisch mag Europa wie gewohnt schwerfällig sein, medizinisch ist es eher vorbildlich. Wir dürfen nicht immer alles schlecht reden.

Ist die medizinische Kooperation respektive Non-Kooperation zwischen den Nationen das größere Problem in der gegenwärtigen Krise oder die zu eingeschränkte, stereotype Wahrnehmung des jeweils anderen?

Wenn es ein Problem gibt, dann in der Herangehensweise, wie man der ökonomischen Belastungen Herr wird. Europa ist aber bei weitem besser als sein Ruf.

Veranschaulichen Sie das Phänomen bitte an einem Beispiel: Wie wird der Umgang der Deutschen mit der Krise in der veröffentlichten Meinung in Italien eingeschätzt? Und was erwarten die Italiener in der veröffentlichten Meinung von den Deutschen?

Zum einen schätzt man die Maßnahmen, die in Deutschland gesetzt wurden, als kühn ein. Man glaubt nicht, dass diese reichen werden. Aber man ist sich sicherlich bewusst, dass Deutschland über das beste und leistungsstärkste Gesundheitssystem in Europa, vielleicht in der Welt verfügt. „Die schaffen das schon!“ ist ein Tenor. Unverständnis herrscht über die vermeintlich fehlende Hilfe beim ökonomischen Wiederaufbau des Landes. Das Stichwort lautet  „Eurobond“. Das verübelt man. Hier treffen alte Gegensätze aufeinander. So mischt sich in die Bewunderung auch Zorn.

Und wie sehen Sie es als Südtiroler, dem die Perspektiven des Nordens und des Südens vertraut sein dürften?

Politik ist nicht das, was aktuell zählt. Was zählt ist, dass täglich Lösungen für schwerkranke Patienten auch mit europäischer uneigennütziger Unterstützung gefunden werden. Der Rest entlockt mir nur ein Schmunzeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der improvisierende Südländer mit dem planenden Nordländer jemals mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner gemein haben wird. Das ist aber bereits seit den römischen Verträgen von 1957 so.

Sollten in der öffentlichen Debatte die Politiker und Entscheider aus solchen Grenzregionen, in denen die Menschen den Perspektivwechsel ein Leben lang erlernt haben und ihn täglich vielfach vollziehen ohne belehrend zu sein, in Krisen – also nicht nur in dieser - häufiger gehört werden?

Mit dieser Frage bin ich überfordert. Viele Leute zu hören, kann wichtig aber zugleich auch hinderlich sein. Schnittstellen haben sicherlich spezifische Probleme, aber oft auch originelle Lösungen, die können müssen aber nicht nützlich sein.

Wann unternehmen Sie Ihre nächste Urlaubsreise und wohin?

Ich wollte im September auf Korsika wandern. Wenn daraus nichts wird, wäre im November ein Monat Entwicklungshilfe in Uganda geplant. Aber auch da bin ich skeptisch.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Pycha, herzlicher Dank für das offene Gespräch.