Claus Peter Müller
von der Grün

„Politik schwächt Pflege“

Das ist die Quintessenz eines Gesprächs, das ich mit Prof. Dr. Boris Augurzky – dem Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit am RWI – Leibniz Institut in Essen - geführt habe. Statt Personaluntergrenzen braucht die Pflege mehr Innovationen und neue Berufsbilder.

Krankenpflege ist herausfordernd und vielfältig. Ihre Aufgaben werden immer komplexer. Sie braucht Differenzierung statt Egalisierung, Innovation statt hemmende Schemata.

Es gibt Lösungen, die keine sind. Die Mietpreisbremse zum Beispiel. Sie kann zwar den Anstieg der Mietpreise vordergründig begrenzen. Aber sie bremst den Wohnungsbau aus. Wer glaubt denn allen Ernstes, dass eine politisch administrierte Beschränkung der Rendite langfristig zu mehr Investitionen in Wohnraum und damit zur Entlastung des Marktes führen wird? Und werden Personaluntergrenzen für die Pflege sowie ein Pflegebudget zu einer besseren Pflege führen in den Krankenhäusern? Nein, lautet die Antwort von Prof. Dr. Augurzky. Der Eingriff von oben wird die Lage der Pflege nicht verbessern, schlimmer noch: Echte Innovationen werden verzögert, die dringend nötig wären, um die Rationierung von Leistungen von der zweiten Hälfte der kommenden Dekade an zu verhindern, lautet die zentrale These des Wissenschaftlers. Auf dem Strategieforum für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen der Evangelischen Bank werden am 15. und 16. November in Berlin Fachleute – unter meiner Moderation - mit Prof. Dr. Augurzky über aktuelle Fragen der Gesundheitswirtschaft sowie über die Herausforderungen für Politik, Kliniken und Pflegeeinrichtungen diskutieren.

2025: Die Rationierung wird zu Tage treten

Einstweilen geht es Deutschland, seinem Sozialsystem und seinen Krankenhäusern ziemlich gut. Nie zuvor hatten wir solchen Wohlstand und so viele Arbeitsplätze. Auch die Lage der Kliniken hat sich seit Beginn dieses Jahrzehnts gebessert. Die Jahresergebnisse der Krankenhäuser sind 2016 gestiegen, und das Ausfallrisiko der Häuser ist gesunken, wie im Krankenhausratingreport nachzulesen ist. Eigentlich wäre es an der Zeit, die fetten Jahre zu nutzen, um den Veränderungen der kommenden mageren Jahre Rechnung zu tragen. Denn aufgrund des demographischen Wandels wird die Nachfrage nach medizinischen Leistungen steigen, während die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter von der Mitte der 2020er Jahre an steil sinken wird. Wenn wir nichts tun, werden immer weniger Menschen immer mehr Arbeit verrichten müssen – insbesondere in der Gesundheitsversorgung und der Altenpflege. Allein in den Krankenhäusern und in der Altenpflege wird der Bedarf an Vollzeitkräften bis 2025 um gut 180.000 wachsen. In der ambulanten und stationären Altenpflege werden zusätzlich 80.000 Fachkräfte benötigt und in den Krankenhäusern zusätzlich 32.000 Ärzte, 30.000 Fachkräfte für Krankenpflege, 22.000 Fachleute im medizinisch-technischen Dienst und 19.000 Fachkräfte für den Funktionsdienst. Den Politikern sagt Augurzky für die Legislaturperiode 2017 bis 2021 eine noch „angenehme“ Atmosphäre in der Gesundheitspolitik voraus. Aber in der folgenden Periode von 2021 bis 2025 werde sich ein Sturm erheben. Es werde an Geld und Personal fehlen, und eine zunächst noch versteckte Rationierung werde immer offener zu Tage treten.  

In Schwächen liegen künftige Stärken

Dann wird es nach der Analyse des Wissenschaftlers drei „Hebel“ geben, um Angebot und Nachfrage wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Wir reduzieren die Nachfrage, wir schöpfen mehr personelle und finanzielle Ressourcen, und wir steigern die Produktivität. „Die Problemfelder im Gesundheitswesen sind die Potentiale von morgen“, sagt Augurzky voraus. Das heißt: Insbesondere da, wo wir besonders schlecht sind, können wir sehr viel besser werden!

Stichworte zur verantwortbaren Reduktion der Nachfrage sind die Steigerung der Indikationsqualität (auch mit Hilfe der Digitalisierung und einer Eigenbeteiligung der Patienten, die die Eigenverantwortung der Versicherten hebt), die Behandlung am richtigen Ort (wenn wir an Notaufnahmen von Kliniken denken, die von Patienten ohne akuten Behandlungsbedarf überfüllt sind), die weitere Ambulantisierung von Leistungen, die sinnvolle Prävention und die Offenheit gegenüber jenem medizinischen Fortschritt, der mit Hilfe der genomischen Medizin und der Präzisionsmedizin die Nachfrage nach medizinischen Leistungen reduzieren kann.

Eine Steigerung der Produktivität erreichen wir, wenn sich die Gesundheitsversorgung so offen für die Digitalisierung und Innovationen zeigen würde, wie es andere Branchen längst sind. An Geld im System fehlt es doch nur, weil alles so bleiben soll, wie es ist. Die gegenwärtigen Versorgungsstrukturen werden insbesondere in ländlichen Räumen nicht überleben. Das öffnet die Chance, dass sich in genau diesen Räumen zu allererst die kommenden sektorenübergreifenden Versorgungsstrukturen mit neuen, „kopfbezogenen“ Vergütungsmodellen (Capitation) ausbilden und politische Impulse zur engeren Vermaschung der Sozialversicherungszweige im Sozialgesetzbuch auslösen werden.

Mehr Ressourcen können wir aus einer florierenden Wirtschaft auch bei konstanten oder sogar sinkenden Beitragssätzen schöpfen, wenn die Wertschöpfung nur hinreichend wächst. Wachstum tut gut. Weitere Ressourcen eröffnen die qualifizierte Zuwanderung, neue Konzepte in der Ausbildung von Ärzten, aber auch neue Berufsbilder sowie eine Attraktivierung der Pflegeberufe nicht nur durch mehr Gehalt, sondern durch Karrieremöglichkeiten, mehr Verantwortung und neue Aufgaben für die Pflege.

Die Pflege braucht Chancen

Aber genau hier setzt die Politik falsche Anreize. Weltweit und seit Dekaden vollzieht sich die Akademisierung der Berufsausbildung, ob man das nun für falsch oder richtig hält. Auch hierzulande waren Lehrer für die Sekundarstufe 1 vor noch gar nicht so langer Zeit nicht-akademisch ausgebildet, und handwerklich ausgebildete Dentisten waren faktisch das, was heute der Zahnarzt ist. Glaubt jemand allen Ernstes, dass diese Entwicklung umkehrbar wäre? Ist es nicht zu einem gerüttelt Maß der Bildungsabschluss, der einen sozialen Status vermittelt und damit den Anreiz bei der Berufswahl setzt? Und warum soll das zwar für alle Berufe gelten, jedoch allein für die qualifizierte Krankenpflege nicht? Kann ein Beruf in der Krankenpflege, in dem krampfhaft wider den gesamtgesellschaftlichen Wandel am Hauptschulabschluss als Zugangsvoraussetzung festgehalten wird, für leistungswillige und leistungsstarke junge Menschen attraktiv sein? Und sprechen nicht zuletzt sachlich-fachliche Gründe für eine ausdifferenzierte Ausbildung in den medizinischen Berufen, eben weil die Anforderungen an die Pflegenden stark differieren – von den Erwartungen an die Servicekraft in der Altenpflege bis hin zum Leistungsprofil eines Operationstechnischen Assistenten oder einer Intensiv- und Anästhesieschwester? Die Pflege benötigt, um attraktiv zu sein und bedarfsgerecht auszubilden, mehr Differenzierung statt Egalisierung. Die Zusammenführung der Ausbildung in den Pflegeberufen war vermutlich gut gemeint, könnte sich aber schon rasch als Pyrrhus-Sieg erweisen.

Auf dem Weg ins vorige Jahrhundert

Gut gemeint, wie die Mietpreisbremse, ist auch die Einführung der Personaluntergrenzen für die Pflege – zumal es keinen eindeutigen wissenschaftlichen Nachweis des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Zahl der Pflegenden und der Qualität des jeweiligen medizinischen Prozesses gibt - sowie die Auslagerung der Personalkosten für die Pflege aus den DRG. Beides ist der Versuch, die Zeit zurückzudrehen in die Epoche des Selbstkostendeckungsprinzips. Personaluntergrenzen und ein eigenes Kostenbudget werden Innovationen nicht befördern, sondern Strukturen konservieren oder gar Überkommenes reanimieren. Die Krankenhäuser werden sehr erfinderisch sein, wenn es darum gehen wird, Personalkosten in das Budget außerhalb der DRG zu verlagern. Dann werden möglichst viele Tätigkeiten als Pflegetätigkeit definiert werden. Die Kosten werden keine Rolle spielen, denn die tragen ja die anderen. Nur eines wird es nicht geben: Den Anreiz, neue Berufsbilder zu entwickeln, Pflegekräfte bedarfsorientiert, spezialisiert und auf neue Aufgaben hin qualifiziert auszubilden, um sie in neuen Strukturen optimal und adäquat einsetzen zu können. Die Erfolge der vergangenen Jahre – mithin die in innovativen Kliniken praktizierte Entlastung der qualifizierten Pflegekräfte durch Servicekräfte, durch Sekretariate und Arzthelferinnen, die assistierend Aufgaben übernehmen, um die hochqualifizierten Pflegekräfte zu entlasten, - werden leichtfertig in Frage gestellt oder aufs Spiel gesetzt. Jene Politik, die der Krankenpflege helfen will, ist in Wahrheit gegen diese gerichtet. Die Pflege verliert durch dieses Zurück ins frühere Jahrhundert. Ihre Position wird nachhaltig geschwächt.

Sehen Sie das auch so? Oder genau umgekehrt? Vielleicht sehen Sie wir uns in Berlin. Dort reden wir darüber.

Claus Peter Müller v. d. Grün

http://www.rwi-essen.de/augurzky