Claus Peter Müller
von der Grün

Teil der Gewalt

Das ist der Titel einer Monographie, die die Historikerin Dr. Nadine Freund zum Thema „Das Regierungspräsidium Kassel und der Nationalsozialismus“ vorgelegt hat. Ich fragte Nadine Freund: War das Regierungspräsidium Kassel ein Teil Gewalt?

Dr. Nadine Freund

Ja, sogar im doppelten Sinn. Das RP war als Reichsmittelbehörde Teil der staatlichen Gewalt. Und dieser Staat setzte seine Ziele wiederum nicht zuletzt mit offener Gewalt gegen Minderheiten und Andersdenkende durch. Das RP selbst übte zwar keine tätliche Gewalt aus, arbeitete aber eng mit der Gestapo zusammen, die für ihre gewaltsamen Methoden berühmt-berüchtigt ist.

Und wurde das RP einfach so über Nacht „Teil der Gewalt“?

Ja und Nein. Regierungspräsident Friedensburg, der als überzeugter Demokrat bekannt ist, hat man im Februar 1933 abgesetzt, im März 1933 folgte ihm der neue RP, Konrad von Monbart, nach. Aber als von Monbart ins RP kam, war da schon Otto Kramer, der Leiter der Forstabteilung. Der wiederum hatte die Nationalsozialisten schon 1932 aus der Behörde heraus unterstützt, indem er der Partei beispielsweise eine große Propagandaveranstaltung genehmigte. Dieser Otto Kramer wurde 1934 zum Regierungsvizepräsidenten ernannt und wirkte, wie er später selbst aussagte, als Verbindungsmann der Behörde in die Partei. Um zu verstehen, warum auch andere Beamte so bereitwillig mit den Nazis kooperierten, hilft es, zu wissen, dass viele der leitenden Beamten der DNVP angehörten. Die Anhänger dieser Partei trauerten nämlich der Monarchie nach, wollten sich mit den Auflagen des Versailler Vertrags nicht abfinden und wollten eine massive Einschränkung des Aktionsspielraums der politischen Linken und der Juden erreichen. Mit dem Aufstieg der Nazis sahen sie die Chance zur Durchsetzung ihrer Ziele gekommen. Deshalb waren Sie zur Kooperation bereit.

Gingen die Beamten auch mit den Methoden der Nazis konform?

An die Gewaltexzesse gegen Andersdenkende und Minderheiten haben sich ich die Beamten offenbar schnell gewöhnt. Die Gewalt wurde von Seiten des RP schon bald - je nach Zusammenhang - entweder geleugnet, bagatellisiert oder als entschuldbar dargestellt. Sanktionen gegen nachgeordnete Behörden, die ihre Aufsichtspflicht verletzten, gab es kaum. Das RP hat schon kurz nach der Machtübernahme der NSDAP gemeinsam mit der Gestapo politisch Oppositionelle in Haft gebracht und enteignet. Damit hat die Behörde maßgeblich zur Machtsicherung der NSDAP beigetragen.

Aber, Frau Dr. Freund, man hat doch häufig die Vorstellung von einer Verwaltung, die präzise geordnet ist und nach festen Regeln funktioniert. Hat der RP in Kassel diese Grundsätze abgelegt und in ihr Gegenteil verkehrt?

Prinzipiell prallten mit der Machtübernahme der NSDAP unterschiedliche Vorstellungen davon aufeinander, wie man einen Staat regieren und verwalten sollte. Parteifunktionäre, darunter auch viele Landräte, die wegen ihres Parteibuchs an ihre Posten gekommen waren, haben die Vorstellung der Gesetzesbindung der Verwaltung nur bedingt geteilt. Dies hat zwangsläufig Konflikte nach sich gezogen. Die waren aber systemimmanent, das heißt die Ziele des NS wurden von Seiten der Verwaltung nicht in Frage gestellt, nur darüber, wie diese Ziele durchgesetzt werden könnten, war man sich nicht zwangsläufig einig.

Schwächten sich die Konflikte mit der Zeit ab? Fand man Lösungen? Und zu wessen Lasten?

Die Verwaltung verlangte danach, die politischen Ziele der NSDAP in Gesetze zu kleiden. Damit hatten die Verwaltungsjuristen Erfolg, NS-Unrecht wurde in diesem Zuge pseudolegalisiert.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Das wohl bekannteste Beispiel sind die Nürnberger Gesetze, mit denen sogenannte "Nicht-Arier" zu Bürgern zweiter Klasse gestempelt wurden. Mit den Gesetzen wurden ihnen Ehen und sexuelle Verbindungen mit sogenannten „Ariern“ verboten, sie durften die Reichsflagge nicht hissen und keine „arischen“ Haushaltshilfen mehr beschäftigen. Das klingt vielleicht banal, ist jedoch ein frappierendes Beispiel dafür, wie durch Gesetze und behördliche Entscheidungen häusliche Gemeinschaften zwischen Juden und sogenannten Ariern zerstört wurden. Die Hausangestellten waren ja oft quasi Teil der Familie. Später wurden die Gesetze verschärft und die Juden auf dieser Grundlage mit Hilfe des RP enteignet.

Gab es nie Protest unter den Beamten gegen diese Gesetze?

Zumindest keinen nachvollziehbaren. Es lässt sich sogar nachweisen, dass einige Beamte des RP Kassel eine rechtliche Schlechterstellung von Juden gegenüber dem Innenministerium aktiv eingefordert hatten, um ihren Überzeugungen gemäß handeln zu dürfen. Zudem muss man festhalten, dass das RP in der Regel doch recht flexibel auch auf Anforderungen von Seiten der Partei reagierte, welche die Grenzen selbst jener Gesetze sprengten. Beispielsweise akzeptierte die Behörde, dass ein Landrat eine Verordnung, die zur „Arisierung jüdischen Besitzes“ gedacht war, auch rückwirkend anwendete, obwohl das vom Gesetz nicht gedeckt war.

Haben Sie eine Erklärung für dieses Verhalten?

Der RP war auf positive Beziehungen zur NSDAP vor allem auf der regionalen Ebene, also zur Gauleitung angewiesen. Eine besondere Rolle spielte dabei das Gauamt für Kommunalpolitik. Dieses Amt sicherte Bürgermeistern Unterstützung zu, wenn diese Probleme hatten, nationalsozialistische Ziele auf dem Verwaltungsweg umzusetzen. Dieses Parteiamt hatte das Handeln des Regierungspräsidiums ständig im Blick, vorauseilender Gehorsam war also angeraten. Der Leiter dieses Amtes war übrigens gleichzeitig Landrat im Regierungsbezirk und es ist kein Wunder, dass Hierarchieebenen der staatlichen Verwaltung vor dem Hintergrund solcher Konstruktionen ins Wanken kamen. Das RP arbeitete aber nicht nur aus Angst vor Sanktionen, sondern in vielen Fällen auch aus Eigeninteresse mit der Gauleitung zusammen. Die Kooperation ging – ob freiwillig oder nicht – sogar so weit, dass Funktionäre der Gauleitung Posten im Regierungspräsidium übernahmen und dass Mitarbeiter des RP nebenamtlich in der Gauleitung tätig waren. Vom vielbeschworenen „Dualismus“ zwischen Staat und Partei, der in älteren Studien beschrieben wird, kann also keine Rede sein. 

Die neuen politischen Strukturen sind das eine. Sind die persönlichen Beziehungen – auch in einer Behörde – wirklich das andere?

Gewachsene persönliche Beziehungen spielten weiterhin eine wichtige Rolle im RP. Die meisten Beamten haben auch im NS kollegial zusammengearbeitet, ohne allzu große Rücksicht auf politische Überzeugungen. Dies äußerte sich auch darin, dass Fritz Hoch, ein Oberregierungsrat, der Sozialdemokrat war und einen jüdischen Vater hatte, während der Jahre 1933 bis 1945 in der Behörde blieb und von einigen Kollegen sogar protegiert wurde.

Das klingt unglaublich – und doch plausibel?

Ich erkläre mir das damit, dass platte Feindbilder nicht funktionieren, wenn man sich dem vermeintlichen Feind auf Augenhöhe nähert. Die Sympathie für den Kollegen hat die Beamten des RP jedoch nicht daran gehindert, die NS-Rassegesetze umzusetzen, die Juden sukzessive zu enteignen und schließlich sogar eine Rolle bei den Deportationen von Juden 1941/42 zu spielen.

Überdauerten persönliche Beziehungen auch den nächsten Systemwechsel?

Nach Kriegsende, als die Entnazifizierungsprozesse anliefen, baten viele ehemalige Kollegen Fritz Hoch ihnen zu bestätigen, dass sie ihn während des Nationalsozialismus unterstützt hatten. Und Hoch kam diesen Bitten in den meisten Fällen nach.

Ich führte das Interview am 5. Oktober 2017 im Staatstheater Kassel. Es war eine Station jener Zeitreise, mit der das Regierungspräsidium den Festakt ob seiner Gründung vor 150 Jahren beging. Wenn Sie mehr über die Monographie erfahren wollen, folgen Sie bitte diesem Link:

https://rp-kassel.hessen.de/pressemitteilungen/das-rp-kassel-und-der-nationalsozialismus

https://www.researchgate.net/profile/Nadine_Freund/info